Wenn ich einmal zur Ruhe komme, während der Meditation zum Beispiel oder abends vor dem Schlafengehen, dann fängt es an: Ein Summen geht durch meinen Kopf, als flöge ein Bienenschwarm hindurch oder als gäbe ein Chor von Grillen ein Sommerkonzert. Das hört dann auch nicht mehr auf, es sei denn, ich lenke mich ab.
Was könnte ein Therapeut oder aber eine Freundin dazu sagen, wenn ich davon erzähle?
Da gibt es viele Möglichkeiten. Lass einmal ein paar davon auf dich wirken.
A.)
Das ist Tinnitus.
Im Alter nimmt das zu.
Das kenn ich, habe ich auch dauernd.
Da kann man nichts machen.
Gefährlich ist das nicht.
Hast du gerade viel Stress?
Hörst du oft laute Musik?
Hast du Ohrenschmerzen?
Du solltest dich mehr entspannen.
B.)
Und was für eine Art von Summen im Kopf ist das?
Und wo genau ist so ein Summen im Kopf?
Und ist da noch etwas zu so einem Summen im Kopf?
Und was geschieht, bevor das Summen anfängt?
Und was geschieht als nächstes?
Und dieses Summen im Kopf ist wie was?
Und was möchtest Du gerne, dass geschieht?
Die erste Reihe von Reaktionen ist dir wahrscheinlich aus dem Alltag vertrauter. Hier geht es darum, Informationen zu sammeln und in einem Konzept zu ordnen, es geht darum, Ratschläge zu geben und Unterstützung zu leisten. Der Therapeut oder die Freundin übernimmt die Führung des Gesprächs und bietet Hilfe, Beratung oder Trost an. In manch einem Kontext ist das sehr sinnvoll.
Die zweite Serie von Fragen mag auf den ersten Blick befremdlich wirken. Die Fragen sind sehr offen formuliert. Sie lassen die verschiedensten Antworten zu. Sie ermutigen den Klienten, seine Aufmerksamkeit vom Therapeuten weg auf sich selbst zu richten, um ganz persönliche Antworten zu finden. Diese Art der Fragestellung kann ungewohnt oder enttäuschend wirken, vor allem, wenn man konkrete Informationen und Ratschläge erwartet. Dennoch steckt in dieser Methodik ein enormes Potenzial, das sich lohnt, genauer zu betrachten.
Clean Language heißt diese Kommunikationsmethode, die in Therapie und Coaching eingesetzt wird. Der Neuseeländer David Grove hat sie in den 1980er Jahren entwickelt im Verlauf seiner Arbeit mit traumatisierten Menschen. Er hatte festgestellt, dass sie oft das, was sie erlebt hatten oder was in ihnen vorging, nur schwer in Worte fassen konnten und sie oft intuitiv auf Metaphern und Symbole zurückgriffen, um Erlebtes zu beschreiben. David Grove begann, mit behutsamen, offenen Fragen diese Metaphern aufzugreifen und gemeinsam mit seinen Patienten auf der Bilderebene zu erkunden. Damit öffnete er ihnen einen sicheren Raum, in dem sie der tieferen und ganz persönlichen Bedeutung dieser Metaphern nachgehen konnten. Das war erstaunlich erfolgreich.
Im Laufe der Zeit entwickelte er ein System aus etwa 12 Basisfragen, die die Einstellungen, Konzepte und Hypothese des Therapeuten so weit wie möglich außen vor lassen und dem Klienten ermöglichen, unbeeinflusst eigene Einsichten und Lösungswege zu entdecken. „Clean“ selbst ist auch eine Metapher und bezieht sich darauf, dass das Gespräch frei ist von „Verunreinigungen“ durch die Perspektive des Therapeuten.
Nick Pole, einem britischen Mind-Body-Therapeuten und Shiatsulehrer, gebührt das große Verdienst, Clean Language in die Körpertherapie eingeführt zu haben. Er bietet international Fortbildungen zu diesem Thema an und hat 2017 das Buch „Words that Touch“ veröffentlicht, das auch auf Deutsch unter dem Titel „Worte, die berühren“ erhältlich ist. In seinem Buch zeigt Nick Pole praxisnah und mit anschaulichen Beispielen, welchen Gewinn Clean Language für die Körpertherapie hat.
Die Grundlage von Clean Language, wie ich sie verstehe, ist die besondere Haltung des Therapeuten: eine Haltung der Achtsamkeit, der vollen Aufmerksamkeit, die von Moment zu Moment das jeweilige Geschehen beobachtet, wie es gerade ist, ohne zu deuten oder zu bewerten, ohne jede Absicht, von sich aus auf das Geschehen einzuwirken. Diese Achtsamkeit ist von Akzeptanz, Mitgefühl, ehrlichem Interesse und Gleichmut geprägt. Sie zeugt von einem großen Respekt vor der Weltsicht des Klienten und einem selbstverständlichen Vertrauen in dessen Fähigkeit, Lösungen zu finden. Aus dieser Haltung ergibt fast wie von selbst die Gestaltung von Gesprächssituationen in Form von Clean Language:
In einem Clean Language Gespräch hält sich die Therapeutin mit eigenen Interpretationen, Vorschlägen und Impulsen völlig zurück. Sie gibt einfach die Worte des Gesprächspartners und ggf. auch die Art der Betonung oder die Gesten so exakt wie möglich wieder, so dass dieser sie wie in einem Spiegel genauer wahrnehmen kann. Und offene Fragen, die keine bestimmte Antwort erwarten, regen Assoziationsketten an, die zu neuen Einsichten führen können.
Beispiele für solche Fragen sind:
- „Und ist da noch etwas zu X?“, wobei X gefüllt wird mit dem, was der Gesprächspartner zuvor geäußert hat, zum Beispiel: „Und ist da noch etwas zu diesem Ziehen im Bauch?“
- Fragen wie „Und was für ein X ist X?“ oder „Und X ist wie was?“ können den Gesprächspartner dazu ermutigen, das, was er erforschen will, in Metaphern oder in Bildern auszudrücken, gerade dann, wenn die Worte fehlen. In Metaphern und Bildern sind so viele Facetten eines Themas gleichzeitig verborgen.
Um zu veranschaulichen, wie Clean Language in der Praxis aussehen kann, gebe ich hier den gekürzten Auszug aus einem Gespräch mit einer Klientin wieder.
Die Klientin erzählt mir von der Mühe, die es ihr macht, ihre Gefühle zum Ausdruck zu bringen, insbesondere gegenüber ihrem Partner. Bevor wir mit einer Shiatsubehandlung beginnen, lade ich sie ein, ihre Aufmerksamkeit in den Körperinnenraum zu lenken und nachzuspüren, welcher Bereich des Körpers vielleicht besondere Aufmerksamkeit braucht und ob sich das Thema vielleicht irgendwo im Körper widerspiegelt.
- Klientin.: „Ich fühle so einen Druck im Hals.“
- Ich: „Und wo genau ist dieser Druck?“
- Klientin.: Mehr vorne.“
- Ich.: „Und dieser Druck mehr vorne im Hals ist wie was?“
- Klientin.: „Wie ein Ball.“
- Ich: „Und ist da noch etwas zu diesem Ball vorne im Hals?“
- Klientin.: „Er sitzt fest.“
- Ich: „Und ist da noch etwas zu ‚Er sitzt fest‘?“
- Klientin: „Es geht nichts raus.“
- Ich: „Es geht nichts raus. Und gibt es noch etwas zu ‚Es geht nichts raus‘?“
- Klientin.: „Dann verrate ich meine Geheimnisse nicht und verletze niemanden.“
- Ich.: „Dann verrätst du deine Geheimnisse nicht und verletzt niemanden. Und gibt es noch etwas zu ‚Es geht nichts raus‘?“
- Klientin.: „Ich kann irgendwie nicht sagen, was ich sagen möchte.“
- Ich: „Und wenn du irgendwie nicht sagen kannst, was du sagen möchtest, was möchtest du gerne, dass passiert?
- Klientin: „Dass der Ball sich bewegen lässt.“
- Ich.: „Und was braucht der Ball, damit er sich bewegen lässt?“
- Klientin.: „Man müsste Öl darum gießen.“
- Ich: „Und was möchte der Ball gerne, dass passiert?“
- Klientin.: „Er möchte hüpfen.“
- Ich: „Und was geschieht dann?“
- Klientin.: „Dann kann ich mich abwechselnd frei äußern und verschließen.“
- Ich: „Und wie wäre das?“
- Klientin.: „Ich kann besser atmen.“
- Ich: „Und wenn du dich abwechselnd frei äußern und verschließen und besser atmen kannst, was geschieht dann mit dem Druck im Hals?“
- Klientin.: „Er ist weicher und der Ball hat bunte Tupfen.“
- Ich: „Und was weißt du jetzt über all das?“
- Klientin.: „Ich kann denn Ball selbst bewegen. Und dass Humor und Leichtigkeit mich weiterbringen.“
- Ich: „Und was für einen Unterschied macht es, das zu wissen?“
- Klientin.: Ich fühle, dass ich mehr Einfluss habe. Und den Humor, den werde ich mitnehmen!“
- Ich: Und ist dies ein guter Zeitpunkt, um mit der Shiatsubehandlung zu beginnen?“
Vielleicht werden an diesem kurzen Beispiel die Kernpunkte dieser Kommunikationstechnik deutlich:
Exaktes Spiegeln:
Ich gebe die Worte und Gesten der Klientin so genau wie möglich wieder. Ich umschreibe sie nicht und fasse sie nicht in meinen Worten zusammen, da auch dies durch meine eigene Sichtweise gefärbt würde. Dieses Wiedergeben muss sehr achtsam und minimalistisch geschehen. Leicht kommt man in die Gefahr, mechanistisch und papageienhaft zu wirken. Das würde den Kontakt schnell unterbrechen. Manchmal genügt ein schlichtes „Ach“ oder „Ja“.
Aufmerksamkeit auf Körperempfindungen:
Ich lade immer wieder ein, die Aufmerksamkeit auf die Körperempfindungen zu richten. Der Körper weiß mehr über das jeweilige Thema, als uns bewusst ist.
Einbeziehen von Metaphern und Symbolen:
Metaphern, Bilder und Symbole sind dem Bewusstsein näher als Körperempfindungen. Ich frage deshalb nach, ob für die Körperempfindung oder das Thema vielleicht ein Symbol aufsteigt, dessen verschiedene Facetten wir uns dann genauer abschauen können. Und auch hier gilt: Die Metapher ist die Metapher der Klientin mit ihrem ganz individuellen Bedeutungsinhalt. Wir tun gut daran, sie dabei zu unterstützen, deren Bedeutung zu erforschen, ohne ihr eigene Assoziationen zu der Metapher anzubieten, die vielleicht nicht wirklich passen. Knapp daneben ist auch vorbei.
Offene Fragen:
Die Fragen sind offen formuliert und lenken nicht in eine bestimmte Richtung. Sie folgen meist der von David Grove vorgeschlagenen Formulierung, um eine Einflussnahme durch eigene Nuancen zu vermeiden.
Verankerung der Erfahrung:
Abschließende Fragen wie „Und was weißt du jetzt über all das?“ helfen, die Erfahrung zu verankern und zu festigen.
Und ist da noch etwas zu X?
Diese Frage regt den Klienten an, das Thema genauer anzuschauen und Assoziationsketten zu verfolgen.
Und wo genau ist X?
Diese Frage lenkt die Aufmerksamkeit auf den Körperbereich, wo das Thema sich widerspiegelt oder ggf. auch auf dessen Position im Raum.
Und X ist wie was? Oder: Und was für eine Art von X ist dieses X?
Hier geht es um eine Metapher für das Thema, um ein Symbol, in dem sich die verschiedenen Facetten und Bedeutungen des Themas verdichten. Die Metapher holt das in der Körperempfindung eher unscharf Verborgene näher ans Bewusstsein.
Und wenn X, was möchtest du gerne, dass s geschieht?
Diese Ergebnisfrage richtet den Blick auf die Bedürfnisse und auf mögliche Lösungen.
Und wie wäre das?
Diese Frage ermöglicht es, Lösungen in der Vorstellung und auch im Körpergefühl vorwegzunehmen. Schon das allein kann eine Veränderung in der Körperenergetik herbeiführen und heilsam sein.
Und was geschieht als nächstes?
Diese Frage kann noch ein wenig weiterführen in der Erforschung des Themas.
Jeder Mensch – so behauptet es zumindest die konstruktivistische Philosophie – nimmt die Welt auf seine ganz persönliche Weise wahr, er „konstruiert“ sich seine Realität. Sein Unbewusstes rückt jeweils das in den Blick, was für ihn wichtig ist und es strukturiert das Wahrgenomme ganz individuell.
Es ist diese Sichtweise, die den Hintergrund bildet für den großen Respekt vor der Weltsicht des Klienten und für die Zurückhaltung der Therapeutin mit eigenen Interpretationen.
Und dieser Respekt ist notwendig, damit ein sicherer Raum entstehen kann, ein sicherer Raum, in dem der Klient sich entspannt seinen eigenen Themen widmen kann, ohne ständig auf der Hut sein zu müssen vor ungebetenen Kommentaren und Interventionen. Entspannung spart auch, wie wir wissen, Energie für wichtigere Dinge und macht es erst möglich, dass sich die Aufmerksamkeit nach innen wendet.
Dadurch, dass die Therapeutin von sich aus nicht eingreift in das Geschehen, kommt nur so viel an die Oberfläche, wie der Klient verkraften kann. Manches bleibt weiter im Verborgenen, manches darf auf der Bilderebene bleiben und kann dort in Bewegung kommen, ohne dass es das Bewusstsein voll erreicht. All dies erklärt, warum Clean Language sich gerade in der Traumatherapie als so hilfreich erweist. Anders als bei traumatischen Ereignissen selbst bleibt die Kontrolle über das, was vor sich geht, ganz beim Klienten.
Eine Vorbedingung dafür, dass therapeutische Prozesse wie auch menschliche Begegnungen im Allgemeinen überhaupt gelingen können, ist Vertrauen. Vertrauen erwächst aus der Gewissheit, dass eigene Grenzen, Bedürfnisse und Sichtweisen respektiert werden und durch die Erfahrung, dass die beiden Partner sich zumindest in einem Bereich auf der gleichen Wellenlänge befinden. Im Shiatsu entsteht dies dadurch, dass sich die beiden Partner energetisch aufeinander einschwingen. Im Clean Language entsteht dies dadurch, dass sich die Therapeutin ganz auf die Wortwahl, die Betonung, die Gestik und die Mimik des Klienten einstellt. So kann Clean Language dazu beitragen, dass sich zwischen den Gesprächspartnern eine vertrauensvolle, entspannte und fruchtbare Beziehung entwickeln kann.
Das Vertrauen, das die Therapeutin in die Fähigkeit zur Selbstregulation beim Klienten vermittelt, wirkt sich direkt auf den Klienten aus. Er erfährt, wie selbstwirksam er sein kann, wenn er ohne Hilfe eigene Lösungen entwickelt. Sein Selbstvertrauen wächst und der Mut, Dinge selbst in die Hand zu nehmen.
Die Einsatzbereiche sind vielfältig.
Im Coaching hilft es bei der Klärung von Zielen und Lösungsstrategien.
Lehrer nutzen es, um Schüler auf die Spur eigener kreativer Lösungen zu setzen und auch für Konfliktgespräche.
Auch für Führungskräfte ist Clean Language in Mitarbeitergesprächen ein wichtiges Werkzeug. Es kann zu einem wertschätzenden Betriebsklima beitragen und nutzbringend sein bei der Organisationsentwicklung.
Manch eine Frage aus Clean Language kann man auch sehr gut alleine zur Selbsterforschung nutzen. Dazu bekomme ich immer wieder Rückmeldungen von Klientinnen.
In der Psychotherapie lässt sich Clean Language gut einsetzen, um Entwicklungen anzustoßen und Problemlösungen auf der Ebene von Symbolen und Metaphern zu ermöglichen. Besonders im Umgang mit Ängsten, Depressionen und Traumata hat sich Clean Language als hilfreich erwiesen.
Ich selbst bin in der Körpertherapie zu Hause, genauer gesagt im Shiatsu. Der Charme von Clean Language für Shiatsutherapeuten liegt zum einen in der Ähnlichkeit des Vorgehens. Auch im Shiatsu geht es in erster Linie darum, Räume zu öffnen für die Selbstwahrnehmung und Selbstregulation. Clean Language nutzt zusätzlich die Sprache, um das Geschehen näher ans Bewusstsein zu holen. Shiatsutherapeuten haben in der Regel keine psychotherapeutische Ausbildung. Clean Language gibt ihnen mit ein paar wenigen, einfachen Fragen und der entsprechenden Haltung die Möglichkeit, Dinge, die während der Behandlung zur Sprache kommen, gut zu begleiten, ohne sich oder den Klienten zu überfordern.
Wie jede Methode ist auch Clean Language kein Allheilmittel. In meiner Arbeit begegnen mir zahlreiche Situationen, in denen es wenig Sinn macht, Clean Language zu verwenden.
Ich gebe regelmäßig Shiatsubehandlungen für Menschen mit schweren körperlichen und geistigen Behinderungen. Die meisten von ihnen sind der Sprache nicht oder nur bedingt mächtig. Mit Fragen wie „Und ist da noch etwas zu X?“ oder „Und was möchtest du gerne, dass geschieht?“ können sie meist wenig anfangen. Sie antworten entweder gar nicht, mit „Weiß nicht“ oder mit einem nicht zur Frage passenden Stereotyp wie „Heute kommt kein Stromausfall,“. Hier sind Clean Language Fragen selten angebracht. Mit der Frage „Wo soll ich denn meine Hände hinlegen?“ gelingt es schon eher, die Aufmerksamkeit mehr nach innen und auf die eigenen Bedürfnisse zu lenken. Wenn sie nicht sprechen können, leiten sie meine Hände. Und die achtsame, absichtslose Grundhaltung, das Mitgehen mit dem, was sich energetisch zeigt, ist auch hier unentbehrlich.
In gutem Kontakt mit sich selbst, mit den eigenen Bedürfnisse und Körper-empfindungen sind in der gegenwärtigen, eher außenorientierten Kultur nicht viele Menschen. Klienten, die neu mit Clean Language konfrontiert werden, schauen uns häufig irritiert an, wenn wir sie fragen „Und wo genau ist X?“ oder: „Und was möchte X gerne, das geschieht?“. Vielleicht sind sie gar nicht auf ein Gespräch eingestellt und wollen einfach ihre Ruhe haben, während wir unsere Arbeit tun und sie von ihrem Symptom befreien. Das sollten wir natürlich respektieren. Das Einzige, was wir tun können ist, Angebote zu machen wie: „Wäre es in Ordnung, wenn ich ein paar einfache Fragen stelle? Selbstverständlich entscheidest du ob die Frage passt oder ob du überhaupt darauf antworten möchtest.“ Und dann ist es sinnvoll, zunächst nur ganz wenige Fragen zu stellen.
Bei manchen Gesprächsthemen geht es auch um Fakten, die ein Expertenwissen erfordern. Zwar sind auch dann ein respektvoller Umgang und manch offene Fragen sinnvoll, doch hier möchte der Klient oft durchaus meine Meinung hören, er braucht Informationen oder Ratschläge. Wenn das Auto nicht anspringt, dann hilft die Information „Du brauchst eine neue Batterie“ eher weiter als „Und was möchtest du gerne, dass geschieht?“
Manche Klienten sind sehr festgefahren in negativen, problemfokussierten Überzeugungen und Gedankenmustern. Auch das gilt es zunächst einmal zu akzeptieren. Denn schon eine bewusste Akzeptanz kann die Atmosphäre entspannen. Der Therapeut ist weniger in der Gefahr, gegen Windmühlenflügel zu kämpfen, und die Klientin fühlt sich angenommen, wie sie nun gerade ist. Dennoch können Angebote, die die Situation verflüssigen, ein Akt der Liebe und Verantwortung sein. Die Psychotherapie zeichnet eine Vielzahl von Wegen vor, von denen wir uns anregen lassen oder die wir vielleicht sogar weiterverfolgen können.
Zum Beispiel:
- Frage nach der Ausnahme: „Immer mache ich alles falsch“ – „Und was in deinem Leben hat schon mal ganz gut geklappt?“ Oder: „Und wie hast du es geschafft, heute pünktlich hier zu sein?“ „Ich behalte die englischen Vokabeln einfach nicht. Englisch kann ich nicht.“ „Und welches englische Wort kennst du schon?“
- Den Dingen eine andere Bedeutung geben, sie in einen anderen Kontext stellen. Reframing heißt dieses Verfahren in der Psychotherapie. So fragt man im Focusing, einer dem Clean Language verwandten Methode, manchmal: „Und was ist das Schlimmste daran?“ und anschließend aber auch: „Und was ist das Beste daran?“ Das kann durchaus Irritationen hervorrufen, denn was soll an einem Bandscheibenvorfall oder einer Trennung denn bitte gut sein? Doch es kann, behutsam angewandt, auch den Blick auf die helle Seite des Problems öffnen. Eine meiner Klientinnen war einmal sehr belastet durch eine schmerzende Schulter. Als ich sie fragte, was denn das Beste daran sei, huschte ein verschmitztes Lächeln über ihr Gesicht und sie sagte: „Ich habe jetzt einen Fensterputzer!“
Eine andere Klientin beklagte sich darüber, dass es ihr nie gelänge, spontan lauthals
ihre Bedürfnisse zu äußern und Streit anzufangen. Meine Äußerung „Ja, du bist sehr
besonnen und brauchst sicher nicht dauernd das zerschlagene Porzellan
aufzukehren“ ließ sie auch die Kompetenz erkennen, die in so einer eher
introvertierten Eigenschaft liegt.
- Verwandt mit dem Reframing ist das Vorgehen des österreichischen Neurologen und Psychotherapeuten Viktor Frankl. Er hat als Psychologe das Konzentrationslager überlebt und seine grauenvollen Erfahrungen haben ihn zu der Überzeugung gebracht, dass Leiden unvermeidbar ist, dass wir aber immer die Wahl haben, wie wir uns dazu verhalten und welchen Sinn wir ihm geben. Ihn selbst hat die Vorstellung am Leben erhalten, dass es seine Aufgabe sei, in der Zukunft Vorlesungen über die Auswirkungen des Aufenthalts im KZ auf die Psyche zu halten. Später hat er die Logotherapie entwickelt, deren Ziel es ist, Menschen dabei zu unterstützen, Sinn und Wert in ihrem Leben und auch in einzelnen schwierigen oder leidvollen Situationen zu finden. Die Frage „WOZU?“ ist in diesem Zusammenhang sehr bedeutsam. Wozu fordert mich das so belastende Geschehen heraus? Wozu inspiriert es mich? Auf diese Weise kann sich der Klient vielleicht einen Sinn für sich darin entdecken und das ganze Geschehen erscheint in einem neuen Licht.
Und dann gibt es Fälle, in denen Menschen sich in heftigen, überfordernden Krisen befinden oder in denen sie keinerlei Kraft haben, sich einer Situation ohne tatkräftige Unterstützung zu stellen. Hier geht es nicht mehr darum, Fragen zu stellen, sondern zu handeln, nach bestem Wissen und Gewissen. Auch, das, was von außen betrachtet wie ein Übergriff erscheint, kann ein Akt der Liebe und der Bereitschaft sein, Verantwortung zu übernehmen, wohl wissend, dass man dabei Fehler machen kann. Ärzte kennen solche Situationen zur Genüge. Bei einem Herzinfarkt kann man nicht lange fragen, was der Patient gerne möchte, dass geschieht. Aber auch Körper- und Psychotherapeuten oder auch Freunde stehen immer mal wieder vor der Aufgabe, Menschen vor selbst- oder fremdschädigendem Verhalten zu bewahren oder ihnen in verfahrenen Situationen einen entscheidenden Rat zu gebe.
Was Clean Language zur Gesprächsführung beiträgt, ist der Fokus auf Achtsamkeit, Absichtslosigkeit und Zen-gleichem Minimalismus in der Art der Fragen. Das ist ein großes Geschenk. Um zu entscheiden, wann und wie wir von diesem Geschenk Gebrauch machen, benötigen wir Mitgefühl, Liebe, Pragmatismus und Anschluss an eine Weisheit, die größer ist als wir selbst.
„Jenseits von falsch und richtig gibt es einen Raum. Dort können wir uns treffen,” sagt der persische Dichter und Mystiker Rumi. Ich freue mich darauf, dort vielen Menschen zu begegnen, die sich voll Begeisterung und Gleichmut mit Clean Language auf Versuche, Irrtümer und neue Erfahrungen einlassen.
Barbara Murakami Juli 2024